Technisierung der Medizin: „Die Technik ist uns auf den Leib gerückt“


Artikel verfasst von

Maike

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Der Gebrauch von Technik im und am Menschen wirkt sich auf das Selbstverständnis von Arzt und Patient aus. Was sind mögliche Konsequenzen der fortschreitenden invasiven Technisierung?

 
Foto: iStockphoto
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Überwachungsgeräte für Vitalparameter, Hightech-Operationssäle mit Roboterassistenz, elektronische Implantate, neurotechnische Arm- und Beinprothesen – Technik hält immer stärker Einzug in die medizinische Praxis und dringt zunehmend auch in den Körper des Menschen vor. Vor allem in der klinischen Medizin, aber auch in der Pflege wächst die Vielfalt hochkomplexer technischer Verfahren und Systeme rasant. Die Akademie für Ethik in der Medizin diskutierte auf ihrer Jahrestagung 2014 in Ulm über die ethischen Fragen, die sich im Kontext einer immer intensiveren Techniknutzung in der medizinischen Versorgung stellen.*

Einen breiten Rahmen steckte der Philosoph Prof. em. Dr. Gernot Böhme mit seinen Überlegungen zur invasiven Technisierung der Medizin ab. Dabei besteht ihm zufolge das Invasive in der Medizin nicht im „gewaltsamen Eindringen“ in die körperliche Integrität, wie man zunächst annehmen könnte. Denn die Entwicklung medizinischer Technologien geht derzeit in Richtung minimalinvasiver Verfahren, bei der durch die Miniaturisierung von Geräten, durch immer bessere bildgebende Verfahren und durch die elektronische Datenverarbeitung mehr und mehr gewaltsame Eingriffe in den Organismus vermieden werden können. Zunehmend wird etwa die offene Bypass-OP durch das Setzen eines Stents mittels Kathether ersetzt.

 

Bis weit ins 19. Jahrhundert wurde Technik vor allem in Bezug auf den Begriff des Homo faber gedacht, des Werkzeug gebrauchenden Menschen. Dabei wird Böhme zufolge unterstellt, dass die menschlichen Lebensvollzüge und Absichten dem Gebrauch von technischem Werkzeug vorausgehen und von diesem unabhängig sind. Dieses Verständnis von Technik als Werkzeug scheint unzureichend geworden zu sein. Vielmehr lassen technische Geräte oder Einrichtungen die Lebensformen des Menschen nicht mehr unberührt – genau darin besteht laut Böhme das Eindringen der Technik. „Menschliche Lebensvollzüge und das, was der Mensch damit beabsichtigt, sind heute weitgehend durch die technischen Rahmenbedingungen des Lebens bestimmt.“

 
Assistive Robotertechnologie: Veränderungen der Arbeitsorganisation und Arbeitsroutinen im OP sind die Folgen. Foto: picture alliance
Assistive Robotertechnologie: Veränderungen der Arbeitsorganisation und Arbeitsroutinen im OP sind die Folgen. Foto: picture alliance

Zunehmend wird etwa die sinnliche Wahrnehmung durch den Gebrauch technischer Instrumente und Medien bestimmt. Der Übergang von Technik als Hilfsmittel zu Technik als Medium lässt sich am Thermometer verdeutlichen: Galt es im 17. Jahrhundert noch als Hilfsmittel, mit dem man die menschliche Wärmeerfahrung objektiver erfassen wollte, so wird heute das, was warm und kalt ist, durch Thermometergrade bestimmt. Böhme: „Der menschliche Wärmesinn wird als mehr oder weniger guter Zugang zu dem, was Temperatur ist, verstanden.“

Heute werden bestimmte Technologien nicht mehr für bestimmte vorausdefinierte Zwecke und Absichten entworfen, sondern sie geben umgekehrt als Medium den Rahmen dafür ab, überhaupt erst bestimmte Zwecke zu setzen und Absichten zu entwickeln (Technik als Dispositiv). Beispiel: Das Internet, ursprünglich zu Kommunikationszwecken entwickelt, ist inzwischen ein Medium, für das immer neue Zwecke gesucht und gefunden werden. Es hat sich zum Medium gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Steuerung entwickelt und dringt in menschliche Verhaltensweisen ein.

Technik setzt die Rahmenbedingungen

In der Medizin lässt sich das an der Entwicklung der Reproduktionsmedizin veranschaulichen: Durch sie – insbesondere in der Form der pränatalen Diagnostik – hat sich Böhme zufolge das Bild dessen, was Fortpflanzung überhaupt ist, weitgehend von einem Geschehen hin zu einem Machen verlagert. Auch die Zeugung auf natürlichem Wege kann sich heute nur noch „in der Lücke der Verhütung“ (Böhme) vollziehen. Ein Beispiel dafür, wie die Entwicklung der medizinischen Technologie das Verständnis der Sache, für die sie eingesetzt wird, verändert: Die menschliche Reproduktion ereignet sich im Rahmen und unter den Einschränkungen, die durch die Reproduktionsmedizin gesetzt sind.

Invasive Technisierung im engeren Sinne bezeichnet medizinische Technologie, die in den Leib des Menschen eindringt und als Stück seines Körpers seine Lebensvollzüge verändert und auf Dauer bestimmt: Die Technik rückt dem Menschen auf den Leib, zum Beispiel in Form von Herz- oder Hirnschrittmachern und anderen Implantaten. Technik kommt als Organverlängerung oder -ersatz ins Spiel – teilweise mit erheblichen Folgen, wie Böhme am Beispiel des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy illustrierte, der sein Leben nach einer Herztransplantation Anfang der 1990er Jahre in einem Buch verarbeitete und darin über seine tiefgehende Entfremdungserfahrung berichtet (1).

Dass wir Funktionen und Wirkungszusammenhänge im Körper nach technischem Vorbild (technomorph) modellieren, folge dem Paradigma interventionistischer Naturwissenschaft, so die These von Prof. Dr. Christoph Hubig, TU Darmstadt. „Freilich sind immer auch die Grenzen solcher Strategien zu reflektieren“, betonte Hubig.

So lassen sich auch organische Funktionen als technomorphe Modellierungen verstehen: Einmal im Hinblick auf ihre kausale Rolle im System, um Störungen im System zu verhindern (Beispiel: die Funktion des Herzens liegt darin, dass es ursächlich dafür sorgt, dass das Blut in einem Zirkulationskreislauf gehalten wird). Ferner im Hinblick darauf, dass sie das Überleben eines Organismus als System garantieren, indem sie perfekte Regelungen gegen Störungen des Systems überhaupt (und nicht nur im System) vollziehen. Als dritte Variante lässt sich die evolutionäre Organfunktion als Ursache einer vergangenen Selektíon betrachten. Diese technischen Modellierungen von organischen Funktionen sind Hubig zufolge deshalb wichtig, weil aus ihnen bestimmte Vorstellungen von Krankheit und Funktionsstörungen resultieren.

Beispiele für technomorphe Modellierungen finden sich in der anthropologischen Tradition, etwa bei Arnold Gehlen – „der Mensch als Mängelwesen“. Der Mensch per se ist ein Problem aufgrund seiner defizitären Ausstattung. Daraus folgt, dass Technik als Lösung bestimmter Funktionen von Fehlfunktionen oder fehlenden Funktionen modellierbar ist – mit Konsequenzen bis hin zur Medizintechnik. Die als Gegenthese dazu vertretene Auffassung sieht den Menschen als Überschusswesen (Beispiel: die von der Gehfunktion freigestellte Hand).

Ebenso lässt sich Technomorphismus auch evolutionsphilosophisch betrachten. „Dann erscheint die Natur selbst als großer Techniker, und je nach Einschätzung erscheint der Mensch mal als Katastrophe der Evolution oder als Krönung der Evolution.“ Beides sind laut Hubig überholte naiv-ontologische Ansätze.

Technomorphe Modellierung des Menschlichen

Schon immer allerdings wurden bestimmte Aspekte des menschlichen Organismus technomorph modelliert, sei es in mechanischer Hinsicht als System von Pumpen, Hebeln und Kraftschlüssen, sei es in chemischer Hinsicht, was die Modellierung von Stoffwechselprozessen betrifft, sei es elektrodynamisch als Vorbild für die Modellierung des Nervensystems oder informatorisch – der Mensch als gentechnisch programmierte Maschine. Dabei handele es sich um ein sektoral orientiertes Vorgehen des Modellierens zu bestimmten Zwecken, die in der Regel sehr erfolgreich seien, erläuterte Hubig, mit der Einschränkung: „Das Problem solcher sektoralen technomorphen Modellierungen ist, dass die Schnittstellen zu anderen sektoralen Verfasstheiten möglicherweise ausgeblendet werden.“

Was darüber hinaus auf der Basis technomorpher Modellierung erfolgreich praktiziert wird, ist nach Hubig die Hybridisierung des menschlichen Körpers. Das ist kein neues Phänomen, denkt man etwa an Brillen oder an Prothesen klassischer Art. Diese weisen klare Schnittstellen zur Körperfunktion auf, die disponibel für die Subjekte sind. Bei Neuroimplantaten, wie etwa Cochlea-Implantaten, ist dies hingegen nicht mehr der Fall. Werden solche Systeme implantiert, bedeutet dies, dass sich die Zugangsmöglichkeiten für die Träger sowohl erkenntnismäßig (wir sehen die Schnittstellen nicht mehr) als auch in praktischer Hinsicht (sie sind nicht mehr disponibel) ändern.

Der Körper ist etwas, das laut Hubig als Gegenstand naturwissenschaftlich-technisch-interventionistisch immer besser erschließbar ist. „Leib“ hingegen bezeichnet im Unterschied dazu ein sozial- und kulturgeschichtlich individualisiertes Selbstverhältnis, das ein Körper zu sich einzunehmen vermag, indem er sich auf sich selbst bezieht.

OP-Roboter: Faszination ist ungebrochen

„Wir leben in einer technischen Zivilisation. Bewertungsparameter hierfür fehlen aber noch“, meinte Bettina-Johanna Krings vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie. Der traditionell im anthropologischen Kontext von Zweck-Mittel-Überlegung (kausale Überlegungen) entwickelte Technikbegriff bleibe unzulänglich. Diese These konkretisierte sie am Beispiel des Einsatzes von Robotertechnologie in der Medizin.

Hightech habe in der Medizin und speziell in der Chirurgie einen hohen Stellenwert. Das liege vor allem in der langen Tradition von Maschinenbildern in der Medizin begründet, führte Krings unter Berufung auf Studien von Prof. Dr. Alexandra Manzei aus. Danach hat sich seit der Renaissance das Körperbild, die Perspektive der Medizin auf den menschlichen Körper allmählich verändert und die Assoziation des Körpers als Maschine verstärkt: „Mit der Analogierung des Körpers als funktionierende Maschine entstand so auch die Vorstellung, dass der Körper in gleicher Weise repariert, verändert, gemessen, kontrolliert und in seinen Einzelteilen ausgetauscht werden konnte“, erläuterte Krings. Der Einsatz von Robotertechnologie basiere auf diesen Denkfiguren.

Ein Beispiel hierfür aus der jüngeren Vergangenheit, an dem damit verbundene Risiken sichtbar werden, ist Robodoc, ein OP-Roboter, der für Fräsarbeiten am Hüftknochen eingesetzt wurde. Hierzu präsentierte Dr. Catarina Caetano da Rosa, TU Darmstadt, eine historische Studie, in der sie zeigt, wie sich der Analogieschluss, dass sich maschinelle Präzision auch im medizinischen Bereich bewähren würde, im Fall von Robodoc nicht bewahrheitete (2). Robodoc wurde Anfang 2000 in Deutschland eingesetzt. Es kam zu einer Reihe von Kunstfehlern. Die Ärzte hielten zunächst sehr lange an dieser Technik fest. Erst aufgrund einer Initiative von geschädigten Menschen setzte eine gesellschaftliche Diskussion ein, in deren Folge das System vom Markt genommen wurde.

Dennoch gibt es weiterhin Roboter in der Medizin als Weiterentwicklung laparoskopischer Systeme, so etwa das „da Vinci“-System als Prototyp für eine assistive Robotertechnologie für Gehirn-, Knie- und Hüftoperationen, bei dem der Operateur an der Konsole arbeitet, räumlich getrennt vom operierten Patienten und vom OP-Team. „Die Faszination der technischen Präzision ist ungebrochen“, betonte Krings.

Neue Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion

Für Kliniken, die sich für die mit hohen Investitionskosten verbundene Anschaffung eines solchen Systems entscheiden, hat dies große Auswirkungen: Weil nur spezielle Eingriffe damit möglich sind, führt dies zur fachlichen Spezialisierung und zur Effizienzsteigerung. Die Arbeitsteilung nimmt weiter zu, gleichzeitig wandelt sich die Organsiation der Prozesse. So sitzt der Operateur an der Konsole und kann wesentlich effizienter arbeiten, was hohe Durchsatzraten ermöglicht. Der Operateur verändert sein Profil, er muss spezifische Qualifikationsanforderungen erfüllen. Die räumliche Trennung des Chirurgen vom Patienten und vom OP-Team führt auch zu neuen Kommunikationsformen: Der Chirurg kommuniziert per Headset, die atmosphärische Wahrnehmung allerdings fehlt.

„Neue Dimensionen der Mensch-Maschine-Interaktion werden in der Diskussion jedoch ausgeblendet“, meinte Krings. Letztlich aber hätten diese Rationalisierungen soziale Dynamiken zur Folge, wie sie auch charakteristisch für die Industrie seien. Viele Fragen sind daher aus ihrer Sicht noch offen, etwa: Was bewirken Standardisierungsprozesse durch neue Technologien? Wie verändern sich die Arbeitsroutinen in Raum und Zeit, wie die Berufsbilder auch im Gesamtkontext der Medizin?