Sind Einzelkinder anders als Kinder mit Geschwistern?


Artikel verfasst von

Maike

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Image  © Sergeeva / Getty Images / iStock (Ausschnitt)

Sie wollen stets ihren eigenen Kopf durchsetzen und können nicht teilen, so das gängige Vorurteil vom verhätschelten Einzelkind. Wer danach sucht, wird wohl auch immer wieder Bestätigung für das Bild vom geschwisterlosen Tyrannen finden. In der Wissenschaft geht die Idee vor allem auf eine Veröffentlichung namens »A Study of Peculiar and Exceptional Children« aus dem Jahr 1896 zurück. Der Pädagoge E.W. Bohannon von der Clark University in Massachusetts hatte Probanden einen Fragebogen vorgelegt – seinerzeit eine recht neue Form der Datenerhebung – mit Fragen zum Gemüt von beliebigen Einzelkindern, die den Teilnehmern in den Sinn kamen. In 196 von 200 Fällen beschrieben sie den Betreffenden als »übertrieben verwöhnt«.

 

Andere Fachkollegen pflichteten Bohannon bei. Die damals verbreitete Skepsis gegenüber Einzelkindern rührte auch daher, dass Mittelschichtfamilien immer weniger Kinder bekamen und so mancher privilegierte Zeitgenosse die Ausbreitung angeblich untergelegener Bevölkerungsschichten befürchtete. Im frühen 20. Jahrhundert waren sogar Bedenken verbreitet, das Aufwachsen ohne Geschwister lasse Kinder zu überempfindlichen Mimosen verkümmern. Wenn die Eltern ihre ganzen Sorgen und Ängste auf einen Sprössling konzentrierten, würde dieser irgendwann selbst zum Hypochonder mit schwachem Nervenkostüm.

Alles Quatsch, sagt die Datenlage im 21. Jahrhundert. Einzelkinder zeigen keine gravierenden Defizite. Toni Falbo, Psychologin an der University of Texas in Austin und selbst Einzelkind, wehrt sich gegen die Vorstellung, man brauche notwendigerweise Geschwister, um zu einem anständigen Menschen heranzuwachsen. In ihrer Überblicksarbeit von 1986, für die sie mehr als 200 Studien zum Thema in Augenschein genommen hat, kommt sie zu dem Schluss: Die Wesenszüge von Einzel- und Geschwisterkindern unterscheiden sich nicht. Lediglich die Beziehung zu den Eltern scheint eine besondere zu sein; bei den untersuchten Einzelkindern war sie enger.

Das Verhältnis zu den Eltern





Das bestätigt auch eine Untersuchung aus dem Jahr 2018. Andreas Klocke und Sven Stadtmüller von der Frankfurt University of Applied Sciences nutzten Längsschnittdaten von rund 10 000 deutschen Schülern, um Eigenheiten von Erstgeborenen, Nesthäkchen, Sandwichkindern und Geschwisterlosen aufzuspüren. Dabei betrachteten sie unter anderem die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, die sie als sehr gut auffassten, wenn das Kind angab, es falle ihm leicht, sowohl mit seiner Mutter als auch mit seinem Vater über wichtige persönliche Dinge zu sprechen. Mit zirka 25 Prozent bejahte die Gruppe der Einzelkinder das am häufigsten, dicht gefolgt von den Erstgeborenen mit knapp 24 Prozent. Unter den mittleren Kindern berichteten 20 Prozent und unter den jüngsten 18 Prozent von einer sehr guten Beziehung zu ihren Eltern. Ein überraschender Befund, sagt man doch gerade Nesthäkchen nach, sie hingen besonders am Rockzipfel der Mama.

Trotz des guten Verhältnisses zu den Eltern bedauern Einzelkinder häufig, dass sie ohne Geschwister aufwuchsen. 2001 baten Lisen Roberts von der Western Carolina University in Cullowhee sowie Priscilla Blanton von der University of Tennessee in Knoxville junge geschwisterlose Erwachsene, ihre Kindheit rückblickend zu bewerten. Besonders schade fanden viele, dass sie damals keinen vertrauten Spielkameraden hatten wie andere Kinder mit Geschwistern. Tatsächlich entwickeln Einzelkinder im Vorschulalter auch häufiger fiktive Freunde, mit denen sie sich verbünden und den Alltag teilen. Grund zur Sorge besteht dabei nicht. Im Gegenteil: Das kreative Spiel mit dem imaginären Gefährten fördert sogar die soziale Entwicklung und die Kommunikationsfähigkeit.

Allerdings gibt es durchaus Hinweise darauf, dass Einzelkinder etwas weniger bereit sind, sich mit anderen zu arrangieren. Neue Erkenntnisse zum Thema kommen aus China, wo die Ein-Kind-Politik 36 Jahre lang die Familienplanung vorschrieb. Forscher um den Psychologen Jiang Qiu von der Southwest University in Chongqing untersuchten 126 Studenten ohne Geschwister sowie 177 mit Geschwistern hinsichtlich Denkvermögen und Persönlichkeit. Die Einzelkinder erreichten bei einer Befragung geringere Werte im Wesenszug Verträglichkeit. Besonders verträgliche Menschen sind gemäß dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit altruistisch, hilfsbereit, mitfühlend und kooperativ. Wer wenig verträglich ist, wird häufig als streitbar, misstrauisch und egozentrisch, aber auch als stärker wettbewerbsorientiert charakterisiert.

 

Erfinderische Querdenker

Zudem mussten die Probanden die »Torrance Tests of Creative Thinking« meistern. Zum Beispiel sollten sie sich möglichst viele originelle Verwendungsmöglichkeiten für einen Alltagsgegenstand einfallen lassen, etwa eine Blechdose. Einzelkinder stellten sich dabei als die besseren Querdenker heraus. Vor allem in der Kategorie flexibles Denken hatten sie die Nase vorn. Die Autoren erklären das unter anderem damit, dass Menschen ohne Geschwister sich als Kinder häufig allein zu beschäftigen hatten und so notgedrungen früh erfinderisch wurden.

Aber nicht nur das: Ein Test im Kernspintomografen enthüllte sogar Unterschiede in der Hirnstruktur. Im supramarginalen Gyrus, einem Kortexareal, welches die Forscher mit Kreativität und Vorstellungskraft in Verbindung bringen, fanden sie bei Einzelkindern mehr graue Substanz. Weniger graue Zellen als bei den Studenten mit Geschwistern entdeckten sie hingegen im Frontalhirn, genauer im medialen präfrontalen Kortex. Dieses Defizit ging einher mit einer geringeren Verträglichkeit. Auch frühere Studien schrieben der Hirnregion bereits wichtige Funktionen bei der Verarbeitung emotionaler Information zu – darunter auch die Fähigkeit, anderen Menschen Gefühle zuzuschreiben sowie die eigenen zu regulieren.

Rainer Riemann, Professor für differenzielle Psychologie an der Universität Bielefeld, rät jedoch dazu, Befunde wie diese stets kritisch zu hinterfragen. »Studien, die Eigenheiten von Einzelkindern oder Geschwistern eines bestimmten Geburtsrangs untersuchen, sind generell mit Vorsicht zu genießen«, gibt er zu bedenken. »Hier kommt es immer darauf an, auszuschließen, dass andere Faktoren, die mit dem betrachteten Merkmal verwoben sein könnten, für die Unterschiede verantwortlich sind. Im Fall des Einzelkinds ist das vor allem der sozioökonomische Status der Familie. Gut situierte Eltern neigen dazu, weniger Nachwuchs zu bekommen.«

Der Tutor-Effekt

Da Kinder aus kleinen Familien erwiesenermaßen tendenziell intelligenter sind als solche aus großen, könnte man annehmen, dass Einzelkinder alle anderen im Intellekt übertrumpfen. Doch das ist nur bedingt der Fall. Zwar überholen sie Menschen, die in der Geburtenfolge spät angesiedelt sind – also als zweites, drittes oder viertes Kind der Familie zur Welt kamen – um einige IQ-Punkte. Das Ranking der Schlauköpfe führen allerdings Erstgeborene mit Geschwistern an. Diese genießen eine Zeit lang die volle Aufmerksamkeit der Eltern, fungieren aber zudem später als Vorbilder für die Jüngeren, was ihnen möglicherweise den entscheidenden Vorteil gegenüber Geschwisterlosen verleiht. Demnach können Erstgeborene ihr intellektuelles Potenzial am besten ausschöpfen und Einzelkinder liegen nur im Mittelfeld. Diesen Tutor-Effekt postulierte in den 1970er Jahren der renommierte US-amerikanische Sozialpsychologie Robert Zajonc, der an der Stanford University in Kalifornien lehrte und forschte.





Wie viel Einfluss der Effekt heute noch hat, ist fraglich. Es hängt womöglich davon ab, wie viele andere Gelegenheiten ein Einzelkind regelmäßig bekommt, seine sozialen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln. Schließlich sind auch Einzelkinder ohne Geschwister keineswegs von der sozialen Umwelt abgeschnitten. Die Kontakte in der Kita etwa bieten ein vielfältiges zwischenmenschliches Trainingsgelände.