Ein Putsch! Der Sturz eines Diktators! In Bolivien sehen Linke und Rechte nur, was ihre Überzeugungen bestätigt


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Indigene Anhängerinnen und Anhänger des zurückgetretenen Evo Morales demonstrieren Mitte November in La Paz.


Natacha Pisarenko / AP

 

I n den Kommentarspalten schlug nach dem Rücktritt von Evo Morales die Stunde der Ideologen. Mit den Vorgängen im Land hatten die Meinungen oft wenig zu tun. Vergessen geht, dass jene, die Evo Morales zu Fall gebracht haben, auch Boliviens Demokratie retten könnten.

In Bolivien steht die Demokratie auf dem Spiel. Eine Übergangsregierung, die sich schwertut damit, nur Übergangsregierung zu sein, hangelt sich von Fehler zu Fehler. Die Regierungspartei, deren Präsident nach Mexiko geflohen ist, beschäftigt sich noch immer obsessiv mit dem verlorenen Anführer. Und der Geflüchtete selber betätigt sich im mexikanischen Exil als Brandstifter.

Es wurde viel geschrieben über Bolivien seit dem Rücktritt von Evo Morales vor vier Wochen. Meist von Leuten, die wenig oder gar keine Zeit in dem Land verbracht hatten, das selten in den internationalen Schlagzeilen auftaucht. Wer die Beiträge las, lernte oft wenig über Bolivien und seine fragile Demokratie – dafür viel über politischen Herdentrieb.

«Ein Putsch!», protestierte die globale Linke, von Jeremy Corbyn bis Nicolás Maduro. Sie beklagte, dass Evo Morales abgetreten war, nachdem ihm die Armeeführung den Rücktritt nahegelegt hatte. Sie unterschlug, dass die Militärs keine Anstalten machten, die Macht im Staat zu übernehmen.

«Ein sozialistischer Diktator ist gestürzt!», jubelte die globale Rechte von Bolsonaro bis Trump. Damit sei die Demokratie in Bolivien gerettet, die anderen lateinamerikanischen Linksautoritären in Venezuela und Nicaragua sollten sich warm anziehen.

Ideologen schrieben Kommentarspalten voll. «Eine brutale Diktatur regiert», hiess es im britischen «Guardian». Die weissen Eliten und ihre globalen Verbündeten hätten sichergestellt, dass der Rohstoffreichtum Boliviens wieder in die eigenen Hände fliesse, lernten die Leserinnen der Schweizer «Wochenzeitung».

Die Texte wiesen zwei Gemeinsamkeiten auf: Erstens zeichneten sie die bolivianische Bevölkerung in überaus groben Strichen. Eine kleine, rassistische Elite, dazu eine breite Masse, die entweder für Morales protestierte oder bis zur Willenlosigkeit manipuliert worden war. Zweitens schien die bolivianische Geschichte zwischen 2006, als ein indigener Präsident angetreten war, um Heldentaten zu vollbringen, und dem 10. November 2019, als der Held abtreten musste, stillgestanden zu sein.


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Keine Lichtgestalt – eine autoritäre Führerfigur

 

Das Ende der Präsidentschaft von Evo Morales, schrieb der Bolivien-Kenner Jim Shultz in der «New York Review of Books», sei wie ein Rorschach-Test – alle sähen darin, was sie wollten.

Was die Ideologen unter den linken Kommentatoren nicht sehen wollten: Erstens war Evo Morales nicht von einer manipulativen weissen Elite zu Fall gebracht worden, sondern von einer Massenbewegung, die sich die Erhaltung der Demokratie auf Transparente und auf zahllose Hauswände geschrieben hatte. Zweitens war Morales längst keine Lichtgestalt mehr, sondern eine autoritäre Führerfigur, die viele Verbündete verprellt und die demokratischen Institutionen ausgehöhlt hatte.

Morales hätte als einer der besten Präsidenten, die in Lateinamerika je regiert haben, in die Geschichte eingehen können. Stattdessen werden sich Bolivien und die Welt an einen Präsidenten erinnern, der Bolivien an den Rand des politischen Zusammenbruchs geführt hat, weil er sich für unersetzlich hielt.

 Versprechen, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Das Argument: Seine erste Amtszeit sei noch unter die alte Verfassung gefallen und habe deshalb nicht gezählt. 

Zwei Jahre später setzte er sich über ein Referendum hinweg, in dem eine knappe Mehrheit der Bevölkerung es abgelehnt hatte, ihm eine vierte Amtszeit zu ermöglichen. Das mit Loyalisten besetzte Verfassungsgericht entschied 2017, dass Morales ein weiteres Mal kandidieren könne. Die absurde Begründung: Die Amtszeitbeschränkung in der Verfassung verletze das «Menschenrecht» des Präsidenten, so oft zu kandidieren, wie er wünsche.

Eine wachsende Zahl von Bolivianerinnen und Bolivianern gelangte zur Überzeugung, dass Morales danach trachtete, Präsident auf Lebenszeit zu sein. Eine Protestbewegung bildete sich, ihr Slogan lautete: «Bolivia dijo No» (Bolivien hat Nein gesagt). Sie formierte sich vor allem in den Städten, sie bestand aus Studierenden und Schülern, aus Rentnern und Arbeiterinnen.




 

Ein Demonstrant in La Paz schützt sein Gesicht im Tränengasnebel.

Ein Demonstrant in La Paz schützt sein Gesicht im Tränengasnebel.

Rodrigo Sura / EPA

Ein Drittel der Bevölkerung ging auf die Strassen

Schliesslich kam die Wahl vom 20. Oktober 2019. Am Wahlabend zeichnete sich ab, dass Morales seinen Herausforderer Carlos Mesa nicht um die zehn Prozentpunkte distanzieren würde, die er für den Sieg im ersten Wahlgang benötigte. Dann, plötzlich, stoppte der Auszählungsprozess für fast 24 Stunden. Als die Auszählung wieder öffentlich wurde, verfügte der Präsident über die nötigen zehn Prozentpunkte Vorsprung. Morales erklärte sich zum Sieger, die Opposition beklagte Betrug. Für die Demokratiebewegung war das Mass voll.




 

In den Wochen danach gingen Millionen von Menschen auf die Strasse, laut Schätzungen ein Drittel der bolivianischen Bevölkerung. Strassen wurden blockiert, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Auch Anhänger von Morales errichteten Blockaden, auf den wichtigsten Versorgungswegen der Städte.

Das Ende für Morales kam am 10. November, als eine Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten ihren Bericht zur Wahl veröffentlichte. Die Auditoren schrieben, der plötzliche Sprung in Morales' Wahlanteil sei «höchst unwahrscheinlich». Die Computersysteme waren offenbar manipuliert worden.

In den Stunden danach forderten mehrere frühere Verbündete den Präsidenten zum Rücktritt auf, unter ihnen der mächtige Gewerkschaftsverband Central Obrera Boliviana. Minister und andere Funktionsträger traten zurück. Schliesslich, am Abend, legte auch die Armeeführung Morales den Rücktritt nahe. Ein sichtlich erschöpfter Präsident kam der Aufforderung nach.

Dass er in dem Moment zurücktrat, als ihm die Armee die Unterstützung entzog, war unschön. Doch Morales fiel nicht, weil die Armee an die Macht strebte. Er stürzte wegen seiner eigenen Arroganz und weil Millionen von Bolivianerinnen und Bolivianern nicht zusehen wollten, wie der Präsident die demokratischen Institutionen zertrümmerte. 

Die Übergangsregierung begleicht Rechnungen

Die bolivianische Demokratie ist mit dem Sturz von Evo Morales nicht gerettet – wie rechte Kommentatoren glauben. Sie ist mit dem Sturz von Morales auch nicht zu Grabe getragen worden – wie linke Kommentatoren beklagen. «Leute, die bei der Diskussion hängen bleiben, ob etwas ein Coup oder eine Revolution war, verpassen den entscheidenden Punkt», sagte der Politologe Naunihal Singh der «New York Times». «Die Frage ist, was danach passiert.»

Die ersten Zeichen waren alarmierend. Die Interimspräsidentin Jeanine Áñez, die als zweite Vizepräsidentin des Senats ein rein repräsentatives Amt ausgeübt hatte, schwenkte eine riesige Bibel, als sie in den Präsidentenpalast einzog. Für die indigene Bevölkerungsmehrheit sah es so aus, als ob die alte, religiös-chauvinistische Rechte zurück an der Macht wäre.

Áñez tat wenig, um das Bild zu korrigieren. Ihr Kabinett bestückte sie mit Verbündeten aus der politischen Rechten des Tieflands – wo die Abneigung gegenüber Evo Morales stets am grössten gewesen war. Erst nach Protesten wurde die Regierung um einen indigenen Minister ergänzt. 

 anzulasten. Er war am Ende kein Demokrat mehr, sondern ein Politiker, der von der Macht korrumpiert worden war. Dass die bolivianische Demokratie wankt, ist aber auch der Übergangsregierung zuzuschreiben. Sie hat mit ihrem Revanchismus die Gräben weiter vertieft. 

Doch es gibt Hoffnung. Teile der Regierungspartei MAS haben eingesehen, dass sie sich von der Überfigur Morales lösen müssen. Am 23. November haben sie sich mit der Übergangsregierung auf ein Gesetz für Neuwahlen geeinigt. Diese sollen innerhalb von 120 Tagen stattfinden.

Hoffen lässt vor allem auch die Schlagkraft der Bewegung, die Morales zu Fall gebracht hat. Sollte die Übergangsregierung – oder wer immer auf sie folgt – die Institutionen des Landes weiter untergraben, werden wieder Hunderttausende Demonstranten durch die Strassen ziehen.

Die bolivianische Demokratie ist weder gerettet noch verloren. Sie steht vor einem Härtetest.