Die multiple Sklerose und die Milliarden


Artikel verfasst von

Maike

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„Nach der Diagnose stand ich erst mal völlig unter Schock und fühlte mich plötzlich wahnsinnig allein. Was würde nun passieren? Wie würde sich mein Leben verändern? Ich war doch erst 30!“, notiert eine junge Frau in einem Blog von Patienten, die an multipler Sklerose (MS) erkrankt sind. Mit 30 Jahren, so schreibt sie, solle man feiern, einen Bungee-Sprung machen oder mit dem Rucksack durch Australien wandern, „kurzum einfach das Leben genießen“. Durch die Diagnose MS fühle sie sich darum betrogen. Mit multipler Sklerose, einer Entzündung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark betrifft, gehen im schlimmsten Fall Lähmungen und Spastiken einher. Es gibt Medikamente, die Symptome lindern oder den Verlauf der Krankheit abschwächen. Doch heilbar ist sie nach wie vor nicht.

Für Pharmakonzerne ist dieses Therapiefeld deshalb sehr attraktiv. Zumal die Betroffenen – darunter doppelt so viele Frauen wie Männer – typischerweise jung, nämlich zwischen 20 und 40 Jahren erkranken. „Es handelt sich um eine lebensbegleitende Therapie. Denn die Lebenserwartung MS-Erkrankter gilt als normal“, sagt Judith Haas, Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Schätzungen zufolge leben auf der Welt rund 2,5 Millionen Menschen mit der Krankheit, in Deutschland sind es mehr als 200.000.

Roche bringt das neue Medikament Ocrevus

Dass es sich lohnt, trotz schon existierender Medikamente weiter in dieses forschungsintensive Feld zu investieren, dafür ist Roche ein gutes Beispiel. Der Schweizer Pharmakonzern ist eigentlich ein Spezialist auf dem Gebiet der Krebstherapien. Doch nach zehn Jahren Forschung hat das Basler Unternehmen im vergangenen Jahr das MS-Medikament Ocrevus in Amerika auf den Markt gebracht. Vor kurzem haben die Schweizer auch die Zulassung für Europa erhalten. Analysten trauen dem Medikament zu, in der Spitze Jahresumsätze von bis zu 5 Milliarden Euro zu generieren.

 

Roche hat seinen Umsatz 2017 um 5 Prozent auf 53,3 Milliarden Franken (46 Milliarden Euro) erhöht. Dabei gehörte Ocrevus zu den größten Wachstumstreibern. Bei der Bilanzvorlage in Basel geriet der Vorstandsvorsitzende Severin Schwan ins Schwärmen. Unter den neu zugelassenen Arzneien sei das MS-Mittel ein „Highlight“ gewesen, das sich deutlich besser als erwartet entwickelt habe. Tatsächlich spielte Ocrevus, obwohl es erst seit dem zweiten Quartal 2017 auf dem Markt ist, auf einen Schlag 869 Millionen Franken ein. „Wir werden weiterhin ein sehr starkes Wachstum für dieses Medikament sehen“, sagte Schwan, ohne konkrete Zahlen zu nennen. Aber klar scheint, dass Ocrevus im laufenden Jahr leicht und locker über die Umsatzschwelle von einer Milliarde Franken kommt.

Nach Aussage von Roche-Forschungschef Daniel O’Day wurden bisher mehr als 30.000 Personen mit dem neuen Mittel behandelt. Die Reaktionen von Patienten und Ärzten seien positiv. Ocrevus schlage nicht nur sehr gut an, sondern habe weniger Nebenwirkungen als andere MS-Medikamente. „Das sind sehr gute Nachrichten für die Patienten“, sagte der Amerikaner am Rande der Pressekonferenz.





Die Neurologin Judith Haas bestätigt, dass Ocrevus aus medizinischer Sicht einen beträchtlichen Fortschritt bringt. Die wenigsten Betroffenen litten an der primär progredienten Form, bei der sich der Zustand stetig weiter verschlechtert. Genau für diese recht kleine Untergruppe an Patienten gebe es mit Ocrevus aber nun erstmals ein wirksames Medikament. Und auch für die schubförmige Form habe Ocrevus eine hohe Wirksamkeit bewiesen. Die Schübe, also die Entzündungsherde, führen zu Symptomen wie Sehstörungen, Krämpfen, Müdigkeit, Taubheit, Unsicherheiten beim Gehen, Lähmungen oder auch Inkontinenz. In den vergangenen Jahren seien einige neue Medikamente hinzugekommen, auch mit unterschiedlichen Wirkmechanismen. „Man kann zwar die Zahl der Schübe sehr gut reduzieren, aber das Fortschreiten der Erkrankung dennoch nur verzögern“, sagt Haas. Viele Fragen sind bislang auch noch nicht komplett erforscht. Beschwerden, Therapieerfolg und Behandlung unterscheiden sich deshalb von Patient zu Patient.

In den nächsten zehn Jahren bis zu 17 neue Medikamente

Nach Schätzungen des Analysehauses Global Data wächst der Markt für MS-Medikamente allein in Amerika, Deutschland, Japan, Spanien, Italien, Großbritannien und Frankreich jährlich um rund 3 Prozent auf ein Umsatzvolumen von mehr als 25 Milliarden Dollar im Jahr 2026. Dieses Wachstum speise sich aus der steigenden Behandlungsrate wie auch aus vielen neuen Medikamenten. Bisher wurde der Markt von den vier Herstellern Biogen, der deutschen Merck, Bayer sowie Teva dominiert. Das wird sich nach Ansicht der Studienautoren allerdings ändern. Sie zählen insgesamt 17 Arzneien im reifen Entwicklungsstadium, die innerhalb der nächsten zehn Jahre auf den Markt kommen und den bisherigen Anbietern rund ein Drittel des Geschäfts abnehmen dürften.

Der Darmstädter Konzern Merck hat seit einigen Monaten in Europa ebenfalls ein neues Mittel zur Behandlung einer besonders schweren Form der schubförmigen MS auf dem Markt. Dieses Medikament namens Cladribin gebe den Patienten wegen der Art der Einnahme eine hohe Lebensqualität, sagt Haas. Das Merck-Medikament wird in einem bestimmten Zyklus in Pillenform verabreicht. Ocrevus hingegen wird alle sechs Monate injiziert.

Roche-Forschungschef O’Day wollte sich nicht direkt zum Merck-Produkt äußern. Er machte aber deutlich, dass er sein Unternehmen in Sachen MS-Therapien in der Vorreiterrolle sieht. Für Roche ist das insofern wichtig, weil der Patentschutz für wichtige Krebsmedikamente wie Mabthera und Herceptin abläuft oder schon abgelaufen ist. Folglich graben preisgünstigere biomedizinische Nachahmerprodukte (Biosimilars) dem Konzern das Wasser ab. Roche ist auf den Erfolg seiner neu entwickelten Arzneimittel angewiesen, um die zu erwartenden Umsatzeinbußen auszugleichen. Neben Ocrevus setzt der Vorstand große Hoffnungen auf Hemlibra, ein neues Mittel zur Behandlung der Bluterkrankheit, sowie auf Tecentriq, das in der Krebsimmuntherapie zum Einsatz kommt.

Beim Ausblick verwirrte der Vorstand die Öffentlichkeit mit der irreführenden Ankündigung, dass der Umsatz 2018 „im stabilen bis unteren einstelligen Bereich“ wachsen werde. Erst auf Nachfrage gab Konzernchef Schwan zu, dass mit stabilem Wachstum de facto „Stagnation“ gemeint ist. Demnach könnte auch der Kerngewinn je Aktie stagnieren, sofern man den positiven Ergebnisschub aus der Steuerreform in Amerika ausklammert. Gemessen am Kernbetriebsgewinn, hat Roche 2017 eine kaum veränderte Umsatzrendite von knapp 36 Prozent erzielt.