Der schärfste Bruch in der deutschen Geschichte


Artikel verfasst von

Maike

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Quelle Image: https://www.spiegel.de/geschichte/kriegsende-am-8-mai-1945-der-schaerfste-bruch-in-der-deutschen-geschichte-a-64b9a54a-be13-489a-a4b7-1a79a4c918f0

 

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esiegt und beschämt, nicht befreit fühlten sich die meisten Deutschen, als der Zweite Weltkrieg endete. Heute wächst eine neue Sehnsucht nach Macht - und rechte Propaganda lebt wieder auf.


 

Die totale Kapitulation der Wehrmacht, die am 8. Mai 1945 in Kraft trat, kam spät. Aber sie war nur deswegen total, weil sie so spät kam. Wäre Hitler dem Attentat am 20. Juli 1944 zum Opfer gefallen, hätte sich womöglich ein Rest der alten Ordnung hinübergerettet. Der alte Adel, die preußischen Beamten und Grundeigentümer, die völkischen Eliten und Ruhrbarone hätten einen für sie günstigeren Frieden aushandeln können, Hitler wäre als Einzeltäter ausgemacht worden, und Deutschland wäre auf dem fatal antiliberalen Kurs geblieben, auf den es sich 1871 begeben hatte.

Diese beiden Elemente kennzeichnen den 8. Mai: Einerseits war seit dem Winter 1942/43, der Schlacht um Stalingrad, der Krieg verloren, das Land verheert. Andererseits konnten bis zu diesem Datum Männer, die vernünftigerweise heimgingen, statt sich dem Heldentod zu verschreiben, als Deserteure erschossen werden. Nichts ging mehr, aber der unmenschliche NS-Staat funktionierte noch und stiftete eine tödliche Rationalität.

Bis zum letzten Moment setzte das Morden sich fort. Die Berichte aus den letzten Kriegstagen von Todesmärschen und Exekutionen zeugen von einem Land, das sich ganz und gar der Gewalt hingegeben hatte. Diese Gewalt war nun für alle erkennbar endgültig ein Selbstzweck - obwohl, wie wir heute wissen, der ganze Nationalsozialismus, der ganze Krieg von Anfang an sinnlos, von Anfang an eine Ode an die Gewalt gewesen war.

Und dann dieses Gefühl, das Ernst Jünger in seinem Tagebuch beschrieb: "Abends waren wir zum ersten Male seit sechs Jahren ohne Verdunkelung. Das ist immerhin eine bescheidene Verbesserung für uns an einem Tage, an dem Siegesfeiern in allen Hauptstädten der Verbündeten von New York bis Moskau strahlen, während der Besiegte ganz tief im Keller sitzt, mit verhülltem Gesicht." Günter Grass, zum Kriegsende jugendliches Mitglied der Waffen-SS, schrieb: "Am 8. Mai 1945 ging für mich eine Welt unter." Besiegt, nicht befreit fühlte sich die Mehrheit der deutschen Zeitgenossen, und beschämt obendrein.

 

Im mentalen und emotionalen Labyrinth

Der Historiker Ulrich Herbert umreißt es so: "Nie zuvor in der deutschen Geschichte der Neuzeit hatte es einen nachhaltigeren, tiefer eingreifenden Einschnitt gegeben als in diesem Moment. Und bei allen Elementen von Kontinuität und Restauration, die sich später oder früher bemerkbar machten: Ein schärferer Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht war kaum denkbar."Der Bruch war unzweifelhaft ein Segen. Aber die Alliierten führten ihn herbei, sie entmachteten das Reich: "Aus Handelnden wurden Behandelte und Objekte alliierter Befehlsgewalt", schreibt Herbert. Dies macht das Reden über die Erfahrung des 8. Mai in Deutschland so kompliziert: Der gründliche Neubeginn ist dialektisch verbunden mit der absoluten Katastrophe und einer spezifischen kollektiven Kränkung.

Fortan erlernten die Deutschen die Spielregeln der Demokratie. Doch die Erinnerung an das Kriegsende blieb über Jahrzehnte geprägt von einer fast kindischen Mischung aus Schuldbewusstsein und Selbstmitleid. Sie führte in ein mentales und emotionales Labyrinth.

Gedenken fand, wenn überhaupt, in Nischen statt: Die Vertriebenen organisierten ihre Interessen, manche drängten auf Revanche. Soldaten der Wehrmacht schwiegen viel und schimpften über ihre Vorgesetzten und die Sowjets. Der Antikommunismus des Kalten Krieges hielt die Gesellschaft beschäftigt: Es ging gegen die Rote Armee, wie schon unter Hitler. Die Schuldfrage wurde dabei vernebelt.





"Nichts gewusst" - Albert Speers entlastende Lügen

Im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands regierten berufsmäßige Antifaschisten. Sie betonten ihr früheres Engagement, um von den Verbrechen des Stalinismus und der folgenden Systeme schweigen zu können. Exilanten, Juden und Intellektuelle thematisierten die größeren Zusammenhänge einer Schuld, die systemisch war und nicht an wenigen Obernazis allein festgemacht werden konnte.

Die Mehrheit aber hatte wenig Interesse an Aufklärung und Aufarbeitung. Heute ist klarer: Noch die deutlichsten Beschreibungen von Schoah, Vertreibung und Kriegsverbrechen in Dokumentationen oder Sachbüchern sind völlige Verniedlichungen. Das Grauen überfordert uns bis heute, und es erdrückte die Zeitgenossen, jedenfalls die, die sich überhaupt den Verbrechen stellten. Es gab viele, die Nazis waren und es blieben.

Befreiung des Konzentrationslagers Dachau (30. April 1945)

Befreiung des Konzentrationslagers Dachau (30. April 1945)

 dpa

Zentral für den öffentlichen Umgang mit dem Gedenken in der Bundesrepublik war Hitlers Superminister Albert Speer, zuständig für Stadtplanung wie auch als Rüstungsminister für Zwangsarbeiter. Nach dem Krieg aber beschrieb er in Bestsellern die Fiktion eines "unpolitischen" Architekten, Künstlers und Naturfreundes, der nichts von den Dingen weiß, die er selbst angestellt hat. Speers Lügen wurden ihm so willig abgekauft, weil sie auch in vielen Familien als Legende dienen konnten: Wenn selbst der beste Freund des Führers von nichts wusste, wie sollten dann kleinere Lichter etwas wissen?

Es dauerte, bis die Wahrheit freigelegt wurde, es gab Streit und Anfeindungen. Zu wichtigen Akteuren der Aufklärung wurden die 68er-Bewegung, Forscher wie Raul Hilberg und Saul Friedländer, "Nazi-Jäger" wie Fritz Bauer und Simon Wiesenthal, die Geschichtswerkstätten, die Fernsehserie "Holocaust" (1979), die Wehrmachtsausstellung (ab 1985) und Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" (1996).

 

Weizsäckers kühle, kühne Rede

Zentral aber war die Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 (hier im Video, hier als Text). Als Bundespräsident führte er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes alle Fragmente des Gedenkens so kunstvoll und dicht zusammen, dass Widerspruch kaum möglich war. Die Rede hatte enormen Hall, weil Weizsäcker erstmals von der "Befreiung vom Nationalsozialismus" sprach. Und weil sie Sätze enthielt wie diesen: "Es gab keine 'Stunde Null', aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt."

Doch eigentlich lässt sich aus der Rede kein Element lösen. Weizsäcker betonte die deutsche Schuld und erkannte zugleich auch deutsche Lasten an. Wer etwa sein Lob der Heimatliebe der Vertriebenen akzeptierte, hörte ein paar Sätze weiter vom Andenken an verfolgte Homosexuellen und Kommunisten. Heute fällt vor allem die Rationalität des Vortrags auf, die emotional zurückgenommene Grundfärbung: keine aufwühlenden Zitate von Überlebenden, keine bewegenden Passagen aus dem Tagebuch der Anne Frank. Der Bundespräsident sprach ganz kühl.

Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag

Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag

 Egon Steiner/ picture alliance / dpa

Weizsäcker arbeitete mit intellektuellen Mitteln. Die liberale, moderne Bundesrepublik, dafür steht diese Rede auch, war ein Produkt intensiver intellektueller Arbeit. Keine Partei und kein Rundfunksender, keine Zeitung und kein Nachrichtenmagazin wollten sich nachsagen lassen, antiintellektuell zu sein. Hochschulen waren Hotspots der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Diese praktische Rationalität, die ebenso in der suggestiven Kargheit der Sprache des Grundgesetzes aufscheint, ist auch aus der Not geboren, mit der der Schuld des Nationalsozialismus zurechtzukommen.

Die Rede fand ihre Pointe in der Erwähnung des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow, damals erst zwei Monate im Amt. Kühn sprach Weizsäcker von der "Zuversicht, dass der 8. Mai nicht das letzte Datum bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist". Er nahm, indem er den Blick nach Moskau richtete, im Sinne des Bloch'schen "Prinzips Hoffnung" den 9. November 1989 vorweg.





Der doppelte Machttransfer

Die deutsche Ohnmacht zum Kriegsende führte zu einem doppelten Machttransfer nach Moskau und Washington. Orientierung gaben nun die Supermächte. Nach eigener Weltmacht, das war der Konsens, dürfe Deutschland nie wieder streben. Eigene politische und militärische Macht strebte Deutschland auch nach der Wiedervereinigung nicht an, allenfalls im Kontext multilateraler Institutionen wie EU, Nato und Uno.

"Die Deutschen", sagte Helmut Kohl als Bundeskanzler treffend, "sind heute ein Volk, das sein Glück im Privaten sucht". D-Mark, Autos und Maschinen wurden zu beruhigenden, biederen Symbolen deutscher ökonomischer Potenz. Mit Sparbuch, Eigenheim und VW lief man keine Gefahr, abermals eine Niederlage zu erleiden, sich schuldig zu machen und plötzlich ohnmächtig dazustehen. Das waren die Kiesel, die langsam den Weg wiesen heraus aus dem Labyrinth der Erinnerung.

Aber die Sehnsucht nach der Ressource Macht, danach, auf ihrer Seite zu stehen, sicher und beschützt, nicht länger zweifelnd - sie lebt neu auf.