Der Fall Aldo Moro - und warum die Revolution ausblieb


Artikel verfasst von

Maike

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Dies ist der Funke, der eine Revolution entfachen, der Schlag, unter dem ein erstarrtes System zusammenbrechen, das Fanal, hinter dem sich Italiens Linke zusammenschließen soll. Am 16. März 1978 entführen die „Roten Brigaden“ Aldo Moro, den Präsidenten der mächtigsten Partei und ehemaligen Ministerpräsidenten Italiens. Sie erschießen seine fünf Leibwächter und verstecken ihn in einem „Volksgefängnis“. 54 Tage lang werden sie den 61-Jährigen festhalten und am Ende das Gegenteil dessen errungen haben, was sie wollten.

In den 1970er Jahren wurde politische Gewalt alltäglich

In jenen Wochen erreicht die politische Gewalt im Nachkriegseuropa eine neue Stufe. Und nicht zufällig erinnert dieser italienische Frühling bis in die Bilder an den ein halbes Jahr zurückliegenden „Deutschen Herbst“: Die Linksterroristen beider Länder haben sich von Beginn an ausgetauscht, waren sich erst fremd, haben sich dann langsam angenähert. Und sind zuletzt in eine Art Wettbewerb geraten, wer erfolgreicher ist – und härter.

Die Welle der Revolte von 1968 hat Italien besonders stark überschwemmt, auch weil es ab 1969 zu einer Serie rechtsradikaler Anschläge kam. Eine Unzahl linker Grüppchen entstand, Arbeiter streikten, gelegentlich brannten die Autos von Managern. Die meisten Attentäter blieben anonym.

Doch um 1970 tauchten Flugblätter auf, in denen sich eine Gruppe zu Anschlägen bekannte: die „Brigate Rosse“, die Roten Brigaden. Mit Attentaten in Firmen verschaffte sich die Gruppe bei Arbeitern und Studenten Sympathien.

Die Brigaden radikalisierten sich. Im März 1972 entführten sie einen Siemens-Manager. Sie fotografierten ihn, einen Pistolenlauf an der Wange, um den Hals ein Schild: „Rote Brigaden – Nichts wird unbestraft bleiben! – Triff einen, erziehe hundert! – Alle Macht dem bewaffneten Volk!“ Dann ließen sie den Mann frei.

 

Die Brigate Rosse gerät unter Druck

Entführungen waren den Italienern vertraut, die Mafia und andere Banden setzten sie seit Langem ein. Die Linksterroristen deuteten das Verbrechen nun zu einer revolutionären Tat um. Auch mit ihrem Foto griffen sie auf Bekanntes zurück: Nach dem Krieg wurden italienische Faschisten und Kollaborateure vor „Volkstribunale“ gestellt, bekamen Schilder umgehängt mit ihren Vergehen.

In den folgenden Jahren gerieten die Brigate Rosse jedoch unter Druck: Eine neu aufgestellte Sondereinheit der Polizei verhaftete einen großen Teil der Führungsspitze. Daraufhin gingen die Terroristen in den Untergrund, bildeten in fast allen Großstädten neue Kolonnen.

Der Mann, der die Terrorgruppe bald dominierte, hieß Mario Moretti. Er wollte der Propaganda Taten folgen lassen und schwor seine Genossen auf einen „Angriff auf das Herz des Staates“ ein.

Die Roten Brigaden konzentrierten sich nicht länger auf die Fabriken, sondern wandten sich Politikern zu, Richtern. Sie wähnten sich am Beginn eines Bürgerkriegs und gingen immer brutaler vor, schossen Politikern in die Beine, ermordeten einen Staatsanwalt. Politische Gewalt wurde alltäglich in diesen Jahren; zwischen 1975 und 1980 kam es in Italien zu mehr als 8000 Anschlägen auf Personen und Sachen.

Mindestens ein Drittel der Attacken ging auf das Konto rechtsradikaler Aktivisten. Diese Attentate waren Teil einer unter anderem von italienischen und US-Geheimdienstlern verfolgten „Strategie der Spannung“: Vermeintlich linke Terrorakte sollten die in Italien sehr starke Kommunistische Partei diskreditieren.

Auch die Rotbrigadisten verübten etliche Anschläge – und zielten schließlich auf einen der einflussreichsten Italiener überhaupt: Aldo Moro, den Präsidenten der katholischen Volkspartei Democrazia Cristiana.

Frühjahr 1978

Seit 1945 regieren die Christdemokraten ununterbrochen das Land. Eine kleine Clique distinguierter Männer teilt sich die Macht in immer neuen und doch ewig gleichen Regierungen.

Aldo Moro ist ihr herausragender Protagonist: seit 1946 ständig in wichtigen Ämtern und Positionen, Justizminister, Außenminister, Generalsekretär der DC, fünfmal Ministerpräsident; seit 1976 Präsident seiner Partei.

Moro gilt vielen in Italien als – im Vergleich zu seinen Parteifreunden – weniger korrupt, doch gerade das macht ihn zum Ziel beißender Kritiken. Moro, der integre katholische Intellektuelle, der aufgeschlossen ist für fortschrittliche soziale Ideen, gilt vielen Linken und Liberalen als Verräter, der seine Talente an die Democrazia Cristiana verschwendet.

Für Moretti und seine Genossen ist Moro Teil des SIM („Stato Imperialista delle Multinazionali“), einer finsteren Verschwörung der Großkonzerne. Die Democrazia Cristiana ist demnach nicht mehr als die italienische Dependance des SIM – und Moro ihr Kopf.





Bevor jedoch die Brigaden ihre Pläne umsetzen können, entführen deutsche Terroristen gut 1000 Kilometer weiter nördlich den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Moretti ist außer sich, so sehr gleicht die Aktion der RAF seinem geplanten Anschlag auf Moro. Selbst die Fotos, die die Deutschen in ihrem „Volksgefängnis“ von ihrem Gefangenen machen, ahmen die Propaganda der Brigate Rosse nach. Befriedigt verfolgt Moretti im Fernsehen die Stürmung der „Landshut“, das Scheitern der Schleyer-Entführung: „Wir werden diesen Fehler nicht machen.“

Die Entführung Aldo Moros

Am 16. März 1978 wollen seine Kämpfer Moro in Rom auf dem Weg zum Parlament überfallen. Monatelang hat Moretti ihn überwachen lassen. In dem Auto, in dem der DC-Präsident an diesem Morgen fährt, sitzen außer ihm der Fahrer und ein Leibwächter; dem Wagen Moros folgt ein zweiter mit drei weiteren Polizisten. Die Fahrzeuge sind nicht gepanzert.

Nachdem Moros Kolonne einige Hundert Meter gefahren ist, fädelt sich Moretti am Steuer eines Pkw unauffällig vor dem Konvoi in den Verkehr ein. Der Wagen wird langsamer und hält an einer Kreuzung an. Dort stehen vier Genossen in Uniformen von Alitalia-Stewards, die Mäntel verdecken kugel sichere Westen und Maschinenpistolen.

Als Moros Auto stoppt, stürzen sie vom Bürgersteig und eröffnen sofort das Feuer. Die Beschützer haben keine Chance; einer wird von drei Kugeln getroffen, einer von sieben, einer von acht, einer von neun, einer von 17 Patronen.

Die Terroristen zerren Aldo Moro aus dem Auto und zwingen ihn in ihren Wagen; andere stellen sich bewaffnet an beide Enden der Straße und sichern den Tatort. Dann fliehen sie. Alles hat nur wenige Augenblicke gedauert. Zurück bleiben vier Tote, ein Sterbender sowie Dutzende Patronenhülsen auf dem Straßenpflaster.

Moretti rast mit seinem Opfer durch die Stadt, während bei der Polizei die ersten Anrufe eingehen. Er bringt Aldo Moro in eine Wohnung im Südwesten Roms, 100 Quadratmeter groß, darin ein sorgfältig getarntes Gefängnis: eine winzige Zelle hinter einer eigens hochgezogenen Wand, versteckt hinter einem Bücherregal.

Die Brigate Rosse sind zu dieser Zeit so stark wie nie zuvor. Rund 120 Kämpfer leben in der Illegalität, dazu kommen ungefähr zehnmal so viele, die nach außen hin eine bürgerliche Existenz vortäuschen. Zehn Terroristen sind direkt an der Entführung beteiligt, die anderen werden von nun an in allen italienischen Großstädten den Überfall durch Flugblätter und weitere Terrorakte propagandistisch begleiten.

Moretti macht ein Foto seines Opfers: Moro vor einer Fahne der Brigate Rosse mit dem fünfzackigen Stern. Dieses Bild eines sichtlich gequälten älteren Mannes wird eine stärkere Wirkung auf die Öffentlichkeit haben als jedes wortreiche Pamphlet der Brigate Rosse – allerdings nicht die von Moretti erhoffte.

 Am Tag der Entführung soll gerade wieder einem neuen DC-Kabinett das Vertrauen ausgesprochen werden, dem 35. seit 1945. Und diesmal wollen zum ersten Mal auch die Kommunisten die Regierung wählen.

Moretti stellt sich die nächsten Tage so vor: Angesichts der Entführung und als Folge der von seinem Gefangenen erwarteten Geständnisse zahlloser politischer Untaten wird der verachtete Staat zusammenbrechen.

Die Kommunisten werden sich wieder ihrer aufrührerischen Vergangenheit besinnen und gemeinsam mit den Brigate Rosse und anderen linken Organisationen durch Revolution die Macht erobern. Italien wird kommunistisch, der SIM besiegt, und Moretti und seine Genossen werden Helden des Volkes.

Doch schon wenige Stunden später (die dazu ausgewählten vier großen Tageszeitungen haben Morettis erstes Kommuniqué noch gar nicht erhalten) muss der Terrorist fassungslos verfolgen, dass die Linke sich keineswegs so verhält, wie er es sich erhofft hat: dass für die meisten Italiener Mord keineswegs der höchste Akt der Menschlichkeit ist – und der Anblick eines gequälten Mannes keinen revolutionären Furor auslöst. Sondern Mitleid und Wut.

Staat und Gesellschaft, die 100 Jahre lang gegenüber der Mafia und zehn Jahre lang gegenüber links- und rechtsextremen Terroristen hilflos waren, wehren sich diesmal. Vielleicht sind es die fünf Erschossenen. Vielleicht scheint die Entführung Moros ungeheuerlicher als die eines unbekannten Managers. Vielleicht ist auch einfach das Maß voll – denn seit dem Frühjahr 1972 haben die Roten Brigaden 16 Menschen verschleppt, 32 ermordet und 65 verletzt.

Schon eine Stunde nach der Entführung rufen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Noch am selben Tag bestätigt das Parlament das neue Kabinett. Vor allem die Führung der Kommunistischen Partei reagiert mit Wut und Scham darauf, dass sich die Brigaden auf die Lehren von Karl Marx berufen, und dringt auf besondere Härte.

Auch treibt sie die Angst, die Nähe zur Macht wieder zu verlieren. Die Kommunisten stehen Regierungschef Giulio Andreotti und der DC eisern zur Seite. Andreotti verkündet schon nach wenigen Stunden die Linie des Staates: fermezza, Standhaftigkeit. Keine Verhandlungen mit den Brigate Rosse.

Da es keine konkreten Forderungen der Terroristen gibt, können sich zwischen den Parteien auch keine Fronten bilden. Moretti lässt dem Staat, den er zerstören will, gar keine andere Wahl, als den Brigaden so stark und geeint wie nie gegenüberzutreten.

In den folgenden Tagen versammeln sich die Menschen in vielen italienischen Städten zu Protestdemonstrationen, in vorderster Reihe marschieren die Kommunisten. Das System bricht nicht zusammen, es konsolidiert sich. Und die Brigate Rosse schreiten nicht als Avantgarde den revolutionären Massen voran, sondern haben sich politisch isoliert.

Morettis Antwort: Er lässt schießen. Sechs Tage nach der Entführung verletzen Genossen aus Turin einen Lokalpolitiker nach Mafia-Manier mit Kugeln in den Beinen. Das gleiche Schicksal erleiden in den Wochen darauf 14 weitere Staatsdiener, Industrielle und sogar Gewerkschafter; vier von ihnen sterben. Doch mit offener Gewalt allein, das hat inzwischen selbst Moretti begriffen, ist Italien nicht in die Revolution zu treiben.

Also beschließt er, Aldo Moro einen „Prozess“ zu machen. Etwas anderes bleibt ihm auch nicht übrig, er hat noch immer keine Forderungen gestellt, deshalb gibt es nichts, worüber Regierung und Terroristen verhandeln könnten.

Moretti beginnt ein „Verhör“. Moro erhält Notizblöcke und Stifte. Bald hat er Dutzende, Hunderte von Blättern mit seiner steilen, korrekten Handschrift vollgeschrieben und stundenlang mit seinem Bewacher diskutiert. Außerdem darf er Briefe verfassen, erst einen, dann immer mehr, schließlich zehn an einem Tag. Er schreibt an die Regierung, an seine Familie, an Politiker, an den Papst.

Die Terroristen haben Moro in eine Kammer gesperrt, zwei Meter lang, etwas über zwei Meter hoch, nicht mal einen Meter breit. Eine Liege, eine winzige Kommode, eine Chemietoilette; so eng, dass er nur stehen, nicht herumgehen kann. In der Wand ein Belüftungsrohr und ein Mikrofon. Kein Fenster, keine Geräusche von draußen.

„Meine liebste Noretta“, schreibt Aldo Moro am 26. März an seine Frau, „zum Osterfest möchte ich Dir und den anderen die herzlichsten und innigsten Wünsche zukommen lassen, voller Zärtlichkeit für die Familie und vor allem den Kleinen. Grüße Anna, die ich heute getroffen hätte. Bitte Agnese, Dir nachts Gesellschaft zu leisten. Mir geht es einigermaßen, werde gut verköstigt und aufmerksam behandelt. Ich segne Euch, sende Euch allen alles Liebe und um arme Euch herzlich. Aldo.“

Zunehmend verzweifelt versucht der einst mächtigste Mann Italiens, Einfluss zu nehmen auf sein Schicksal. Schon im ersten Brief hat er mit Enthüllungen gedroht, und bald macht er diese Drohung auch wahr.

Er erstellt Dossiers über die Politik Italiens im Nahen Osten, die Finanzquellen der DC, den Einfluss der CIA und anderer US-Organisationen auf die italienische Innenpolitik sowie die notwendige Reorganisation der rechtslastigen Geheimdienste. Er schreibt über einen nie wirklich aufgeklärten rechtsextremen Putschversuch von 1964, über einen Bestechungsskandal des US-Flugzeugherstellers Lockheed, über die Beziehungen der reichen Familie Agnelli (der Besitzer von Fiat), über geheime Guerilla-Strategien der NATO.

Es sind keine detaillierten Enthüllungen. Doch Ministerpräsident Andreotti lässt verlauten, der erste Brief Moros sei eindeutig erpresst worden und gebe nicht dessen wahre Meinung wieder. In der Presse wird spekuliert, das Opfer sei mit Drogen willenlos gemacht.

So wenig Moro auf die Menschlichkeit Morettis hoffen kann, so wenig kann er die Fermezza erschüttern.

Ständig tagt ein ministerielles Koordinierungskomitee, in dem hohe Militärs und die Chefs der diversen Polizei- und Geheimdienstorganisationen hektisch versuchen, eine geordnete Fahndung zu organisieren. Vergebens suchen sie in Moros Briefen nach einem Hinweis auf sein Versteck.

Zudem versagt die Polizei bei der Suche, verschlampt Beweise, fahndet ohne Erfolg nach den namentlich bekannten Tätern – die sich trotz millionenfacher Personenkontrollen ohne größeres Risiko in Rom bewegen und sogar längere Fahrten durch Italien wagen.

Papst Paul VI. bietet öffentlich seine Bereitschaft zur Vermittlung an und bedeutet der Regierung vertraulich, er sei auch bereit, ein hohes Lösegeld zu zahlen. Doch Andreotti verbittet sich jede Einmischung in diese Angelegenheit.

Unterdessen lässt Moretti in konspirativen Treffen und per Boten seine Genossen im ganzen Land befragen, was mit dem Entführten geschehen soll.

Das Ergebnis: Fast alle Brigadisten sind für Moros Tod, weil dessen Freilassung eine „Niederlage“ bedeuten würde. Nur zwei Terroristen stimmen dagegen, weil sie einen Verlust an Unterstützung innerhalb der Linken fürchten.

Am 15. April veröffentlicht Moretti ein neues Kommuniqué, das sechste: „Die Vernehmung Aldo Moros hat die schändlichen Komplizenschaften des Regimes zum Vorschein gebracht und belegt mit Fakten und Namen die tatsächlichen und unerkannten Verantwortlichen.“ Die Erklärung endet mit dem Satz: „Aldo Moro ist schuldig und wird zum Tode verurteilt.“

Morettis Kommuniqué geht am Abend bei der Mailänder Redaktion der Zeitung „La Repubblica“ ein.

Es ist das erste Mal, dass die Brigate Rosse einen Mord öffentlich ankündigen. Jetzt zählt jede Stunde.

Doch die Mächtigen bleiben bei ihrer Fermezza, auch als sich Moretti fünf Tage später noch einmal meldet, mit einer vagen Forderung, der ersten seit Moros Entführung: Der Staat solle bis zum folgenden Tag mehrere kommunistische Häftlinge entlassen. Er schreibt allerdings nicht, welche.

Niemand geht darauf ein. Gleichwohl vollstrecken die Brigate Rosse das Urteil noch nicht.

Immer verbitterter wird Moro in seinem Verlies. Er kann nicht fassen, dass ihn seine eigene Partei so im Stich lässt, darunter Männer, die ihm ihre Karriere zu verdanken haben.

In hilflosem Zorn schreibt er: „Ich sage es ganz deutlich: Ich für meinen Teil werde niemandem verzeihen und niemanden rechtfertigen. Ich beschwöre Euch, lasst nicht zu, dass eine so entsetzliche Entscheidung wie ein Todesurteil auf Anweisung irgendeiner Persönlichkeit, die von Sicherheitsproblemen besessen ist, getroffen wird. Sagt so schnell wie möglich, dass Ihr keine übereilte und einfache, keine tödliche Antwort geben wollt. Wenn Ihr nichts unternehmt, würde eine eiskalte Seite der italienischen Geschichte geschrieben werden. Mein Blut würde über Euch kommen, über die Partei und über das Land. Denkt gut darüber nach, liebe Freunde.“

Am 1. Mai schreibt er Briefe an fast alle führenden Politiker des Landes. Seine Bitte: Ihr müsst verhandeln! Und er verfasst eine neue, seitenlange Denkschrift, seine letzte: über die Zukunft der DC und seinen Austritt aus der Partei.

Es ist eine Kritik der verfilzten Democrazia Cristiana. Eine besonders harsche Abrechnung muss sich dabei Andreotti gefallen lassen, Moros fast gleichaltriger Widersacher in der DC, das politische Gesicht Italiens, der in seinem Leben 33 Regierungen angehören und siebenmal Premier sein wird. Andreotti, der nichts tut, um seinen Parteifreund zu retten.

Am 5. Mai verabschiedet sich Aldo Moro schriftlich von seiner Familie, den Kindern, den Enkeln. Vier Tage später zwingen ihn seine Entführer in einen Weidenkorb, schleppen ihn in die Tiefgarage, Moro muss sich in den Kofferraum eines Kleinwagens legen.

Dann drücken Moretti und ein Komplize ab, elfmal. Die Männer fahren den roten Renault zur Via Caetani, einem Ort, fast genau in der Mitte zwischen den Zentralen von DC und Kommunistischer Partei. Das letzte Detail. Dort wird Moro kurz darauf gefunden.

Der ehemalige Ministerpräsident erhält kein Staatsbegräbnis, sondern wird im engsten Familienkreis bestattet. Einige Tage später nehmen Spitzen des Staates sowie der Papst in einer Messe Abschied von dem Toten; die Verwandten haben die Teilnahme verweigert.

Die Roten Brigaden verschärfen ihren Kampf weiter: In den folgenden Monaten entführen sie fast 100 Menschen, begehen 2500 Anschläge. Der Staat reagiert darauf vor allem mit neuen Gesetzen.

Im Februar 1980 tritt eine Regelung in Kraft, die „Reumütigen“ Straferleichterung zusichert, wenn sie mit den Behörden zusammenarbeiten, als Kronzeugen aussagen und dem bewaffneten Kampf abschwören. Schon in jenem Jahr werden mehr als 1000 mutmaßliche Terroristen festgenommen, viele kooperieren mit der Polizei. Drei Jahre nach Moros Entführung sitzen Moretti und die meisten seiner Genossen im Gefängnis.

1986 erklären er und andere inhaftierte Anführer die Brigate Rosse für aufgelöst. Zu sechsfach lebenslänglich verurteilt, wechselt Mario Moretti 1997 in den offenen Vollzug und lebt seither als Freigänger.

Erst im Gefängnis, so sagt der Anführer der Roten Brigaden später in einem Interview, habe er erkannt, dass die Entführungen „keinen politischen Wert“ hatten.