Das große Heulen


Artikel verfasst von

Maike

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Ein Kojote in der Stad: Zumindest das Tier hat damit kein Problem. © Steve Winter/Getty Images

 

Am Highway 1A, der parallel zu den Rocky Mountains durch die Stadt Calgary verläuft, steht ein Kojote im warmen Sonnenlicht und beobachtet den Feierabendverkehr. Das Tier hat den Kopf leicht gesenkt. Die hellen, eng zusammenstehenden Augen sind halb geschlossen. Der Wind, der die wenigen Wolken über die kanadische Prärie scheucht, plustert das dichte sandgraue Fell auf. Im Vorbeifahren könnte man das Tier für einen zierlichen Wolf halten. Oder einen massigen Fuchs. Was der Kojote von den Autos hält, die an ihm vorbeirasen? Schwer zu sagen. Aber offensichtlich stören sie ihn nicht. Und genau das ist sein Problem.

Der Prärie- oder Steppenwolf, wie der Kojote auch genannt wird, begegnet der Zivilisation so unbeeindruckt wie kaum ein anderes Tier. Seit über einer Million Jahre ist er in dem Prärie- und Wüstengebiet zu Hause, das sich von Kanada im Norden bis ins südliche Mexiko erstreckt. Die ebenfalls dort beheimateten Bisons, Wölfe und Bären wurden mit der Kolonialisierung verdrängt oder nahezu ausgerottet. Kojoten dagegen findet man mittlerweile auch in den Wäldern, den Bergen und an der Küste – und sogar in den Städten. So wie hier im Stadtpark Nose Hill, einer über elf Quadratkilometer weiten Graslandfläche auf einem Plateau mitten in Calgary. "Das hier ist ihr ursprünglicher Lebensraum", sagt Shelley Alexander mit Blick auf die Skyline der 1,2-Millionen-Stadt. "Calgary wurde auf Kojotenland gebaut."

Die hochgewachsene Wissenschaftlerin mit den langen blonden Haaren ist Professorin für Geografie. An der Universität von Calgary leitet sie das Canid Conservation Science Lab, eine Einrichtung, die dem besseren Zusammenleben von Mensch und Raubtier dienen soll. "Wir arbeiten eng mit den Bürgern zusammen, um sie, ihre Tiere und damit auch die Kojoten zu schützen", sagt Alexander. Denn eines ist klar: Die Kojoten gehen nicht mehr weg. Anders als Wölfe oder Bären benötigen sie keine grünen Korridore, um sich auszubreiten. Sie tun es im Schatten des Menschen. Dabei hätten sie allen Grund, diesen zu meiden. Das Tier, dessen hohes Heulen den meisten hier so vertraut ist wie die Nationalhymne, wird unerbittlich gejagt.

Kopfgeld auf Kojoten

Weit über eine halbe Million Kojoten werden pro Jahr in Nordamerika getötet. Etwa einer pro Minute. Jagdsaison für Kojoten ist in Kanada das ganze Jahr und in vielen Landkreisen erhalten erfolgreiche Schützen eine Prämie von 15 kanadischen Dollar pro Tier. Auch private Kopfgelder werden ausgeschrieben. "Es gibt Wettbewerbe, bei denen es darum geht, möglichst viele Tiere in möglichst kurzer Zeit zu schießen. Und Sonderpreise für den jüngsten Jäger", sagt Shelley Alexander. Auch Totschlagfallen und Drahtschlingen sind erlaubt. Genau wie Gifte: Strychnin, Natriumfluoracetat oder Cyanide. Dass dadurch auch andere Tiere umkommen? Wird als Kollateralschaden hingenommen.

 
 

"Kojoten gelten als Plage", sagt die Wissenschaftlerin. Sie haben keine große Lobby. Vielleicht, weil ihnen die körperliche Präsenz ihrer großen Brüder, der Wölfe, fehlt. Oder weil sich um sie keine Grimm'schen Märchen ranken. Der wichtigste kulturelle Beitrag seit der Kolonialisierung stammt von Mark Twain: "Die gemeinsten Kreaturen verachten ihn und selbst Flöhe würden lieber auf einem Fahrrad sitzen als auf ihm", schrieb er über den Kojoten. Au-uuuh.

Für die ersten Präriebewohner hatte der Steppenwolf dagegen eine Sonderstellung unter den Tieren. Die First Nations, wie die indigenen Völker Kanadas bezeichnet werden, bewunderten seine Intelligenz und gaben ihm die Hauptrolle in vielen ihrer Geschichten. Meist als Trickster: eine Art Halbgott mit zwiespältigem Charakter. Diesem Old Man Coyote, wie er von den in der Region Calgary heimischen Blackfoot auch genannt wird, verdanken die Menschen unter anderem das Tageslicht, Feuer und die Künste. "In der hiesigen Mythologie ist der Kojote Schöpfer und Zerstörer, Allwissender und Dummkopf – und dem Menschen darin sehr ähnlich", sagt Shelley Alexander.

 
Kojotenjungen

Zwei verwaiste Kojoten, die von Shelley Alexander in einer Forschungsstation aufgezogen wurden. © Shelley Alexander

Die weißen Siedler dagegen sahen in ihm eine Bedrohung. Sie erklärten den Tieren den Krieg. Ohne Erfolg. "Normalerweise bringt das Alpha-Weibchen eines Rudels pro Jahr vier Jungen zur Welt", erklärt Shelley Alexander. "Wird das Rudel jedoch durch Jagd verkleinert, kann diese Zahl im nächsten Jahr auf zwölf oder mehr Junge ansteigen." Kojoten zu töten bringt deshalb nichts – außer mehr Kojoten.